Juli 13 2016

Leseproben

Loewe_01

Ein Löwe auf dem Skateboard

 

Oma und Jule sitzen am Küchentisch. Es ist Mittag und ein gleißender Sonnenstreifen fällt durch das Fenster auf die Kartoffeln, die Oma gerade schält. Jule starrt aus dem Fenster in Omas Kräutergarten, der noch im Schatten liegt. Viele Pflanzen wachsen dort: Rhabarber, Radieschen und Salat. Opa stapft gerade um die Ecke, einen Spaten in der Hand.

»Oma!«, sagt Jule und dreht sich um. »Du bist doch auf einem Bauernhof groß geworden. Ich würde auch gern auf einem Bauernhof mit vielen Tieren leben. Da könnte man bestimmt super spielen!«

»Das war auch toll, Jule«, sagt Oma und legt eine geschälte Kartoffel in eine Schale mit Wasser. »Wir hatten nie Langeweile. Alle Jungtiere bekamen einen Namen, besonders die Ferkel und Kälbchen.«

»Kleine Ferkel, die so rosig aussehen, finde ich total süß! Aber ich kenne sie leider nur aus Büchern. Gänseküken haben wir mit der Klasse mal auf einer Farm gesehen. Wir durften alle eins in die Hand nehmen. Ganz flauschig. Das war toll!«

Oma nickt. »Den kleinen Küken sahen wir auch gerne zu, wie sie vom ersten Tag an emsig Futter suchten und der Glucke gehorchten. Mit den Kätzchen konnten wir stundenlang spielen. Aber spielen durften wir erst, wenn wir keine Arbeiten mehr zu erledigen hatten.«

»Arbeiten? Was für Arbeiten?« Jule runzelt die Stirn und schaut Opa zu, der mit dem Spaten ein Loch im Garten gräbt. »Du meinst, ihr musstet schon arbeiten, als ihr noch nicht mal in der Schule wart? Ich muss zwar mein Zimmer aufräumen – was ich ziemlich öde finde – und mein Aquarium sauber machen, aber arbeiten?«

Oma schmunzelt. »Wir waren ja drei Mädchen«, erklärt sie Jule, »so wie ihr. Und wir haben von klein auf nach Kräften mitgeholfen, zu jeder Jahreszeit: Tisch decken, im Garten Johannisbeeren pflücken, das Vesperbrot – so nannte man das Butterbrot am Nachmittag – aufs Feld bringen, die Kühe zum Melken holen, Torf sammeln, Eier suchen und so weiter.«

Jule denkt kurz nach. »Oma«, fragt sie dann, »durftet ihr denn auch richtig spielen? Ich meine, wenn ihr gerade mal keine Arbeiten zu erledigen hattet? Aber bestimmt hattet ihr nicht so viele Spielsachen wie wir, oder?«

»Bis auf einen Ball und eine Puppe eigentlich überhaupt keine.«

Jule reißt entsetzt die Augen auf. »Oje, Oma. Wie schrecklich! Spielen ganz ohne Spielsachen? Geht das denn?«

Oma nickt, das scheint ihr ganz selbstverständlich. »Aber klar. Das könnt ihr ja – Gott sei Dank – mit den vielen Kindern in eurer Nachbarschaft auch sehr gut. Du warst doch neulich die Königin, die die anderen Kinder einfangen mussten. Übrigens habe ich dich nicht verraten.«

Jule grinst. »Ich weiß, das war Carla. Aber die ist auch ja noch klein.«

Oma nimmt sich eine weitere Kartoffel. »Wir haben auch oft Verstecken gespielt«, überlegt sie laut und wiegt die Kartoffel in der Hand. »Du kennst doch die Ansage: Gilt nicht?«

»Klar.« Jule setzt sich wieder an den Tisch. »Und was galt nicht bei euch?«

»Der Garten war immer tabu«, erklärt Oma, »das heißt, er durfte nicht betreten werden.«

»Also, Verstecken spielen wir oft, aber quer durch alle Gärten. Warum durftet ihr euch nicht im Garten verstecken?«

»Mutter wurde sehr böse, wenn jemand über die Beete lief und die jungen Pflanzen zertrat. Der Garten war ein Gemüsegarten, kein Ziergarten mit Springbrunnen und Blumenbeeten so wie bei euch in der Siedlung. Und das Gemüse wurde nicht gekauft sondern angebaut. Es war also die wichtigste Grundlage für die Ernährung. Das wussten auch alle Nachbarkinder.«

»Weil bei denen das Spielen im Garten auch verboten war?«

»Genau. Aber dafür hatten wir einen viel größeren Umkreis zum Erkunden als ihr: Wiesen, Moor und Weiden, Gräben, Äcker – und die Dorfstraße zum Spielen.«

Jule macht große Augen. »Ihr durftet auf einer richtigen Straße spielen? Das war doch sicher noch keine Spielstraße so wie bei uns, oder?«

»Nein, aber auf der Dorfstraße war absolut nichts los. Keine Autos, LKWs oder Motorräder, die uns in Gefahr bringen konnten. Nur Pferdefuhrwerke. Erst 1950 hat ein Bauer im Dorf sich das erste Auto, einen Ford Taunus, gekauft. Wir nannten den Wagen Schweinebuckel, weil er so ein stark gewölbtes Dach hatte.«

Jule grübelt. »Und – was habt ihr noch im Sommer gespielt?«

»Im Sommer war es herrlich«, erzählt Oma. »Sobald wir den ersten Storch gesehen hatten, durften wir barfuß laufen, morgens durch das frische Gras, auf den Sandwegen zwischen den duftenden Getreidefeldern. Wir konnten in der Weide im Gras liegen und den vorbei ziehenden Wolken nachschauen, um ihnen Namen zu geben.«

»Hm, das habe ich noch nie gemacht. Welche Namen bekamen denn die Wolken?«

»Witzige Tiernamen natürlich. Lämmerschwanz, blökender Hund, Flugschwein … Manchmal haben wir versucht, auf eine im Gras liegende Kuh zu steigen. Wenn die dann aufstand, purzelte man natürlich sofort runter, meine Schwester einmal direkt in einen frischen Kuhfladen.«

»Igitt, igitt! Und?«

»Zum Glück war in der Nähe ein Wassertrog.«

Jule betrachtet verstohlen ihre Hände. Sie sind immer noch etwas schmutzig, seitdem sie vor einer Viertelstunde gemeinsam mit Oma die Kartoffeln im Garten ausgegraben hat. Sie springt auf und wäscht sich die Hände unter dem Wasserhahn in der Küche. »Wenn es im Sommer richtig heiß ist«, erzählt sie Oma, während sie sich die Hände abtrocknet, »spielen wir am liebsten im Pool. Spiele, die wir uns ausdenken, natürlich. Und sonst mit unseren Spielsachen, besonders mit den Schleichtieren. Und dann Oma, gibt es ja noch die Barbies. Ich habe vier Barbies.«

Oma ist mit dem Kartoffelschälen fertig. Sie stellt die Schale beiseite, geht in den Nebenraum und kramt dort herum.

»Und du Oma?«, ruft Jule ihr hinterher. »Hattest du wenigstens eine einzige Puppe?«

»Wir drei Schwestern hatten je eine Puppe und einen Puppenwagen«, erwidert Oma. Es scheppert im Nebenraum, und es hört sich an, als würde Oma in einer großen Kiste mit Messern und Gabeln herumkramen.

»Einen Puppenwagen haben wir auch«, denkt Jule laut, »aber damit spielen wir kaum. Wir haben aber alles Mögliche an Kleidung und Zubehör zu den Barbies. Und Monster High Puppen? Hattet ihr denn wenigstens Puppenkleider zum Wechseln, Oma?«

»Ah – da ist es ja!«, sagt Oma zufrieden. Das Scheppern im Nebenraum hört auf. Oma scheint gefunden zu haben, was sie gesucht hat.

»Was machst du denn da, Oma?«, fragt Jule ungeduldig.

Oma kehrt in die Küche zurück. Sie hat ein kompliziert aussehendes Metallgerät bei sich, das sie jetzt am Küchentisch festschraubt.

»Was ist das?«, fragt Jule neugierig.

»Damit machen wir gleich Pommes frites«, erklärt Oma. »Aber dazu brauchen wir jemanden, der richtig Kraft hat. Klopf doch mal an die Scheibe und ruf Opa.«

Jule klopft an die Scheibe und winkt Opa hektisch zu. Opa schaut verdutzt auf, signalisiert dann aber, dass er verstanden hat und lässt den Spaten im Boden stecken.

»Entschuldige, was hattest du mich gefragt, Jule?« Oma hat sich wieder an den Küchentisch gesetzt.

»Ob ihr auch Puppenkleider zum Wechseln hattet?«

»Ah ja.« Oma mixt sich eine Apfelschorle. Die trinkt sie am liebsten. »Jawohl, Puppenkleider, die hatte unsere Mutter genäht beziehungsweise das Christkind. Unser liebstes Spiel war Mutter und Kind

»Na, das Spiel kenn ich auch«, meint Jule. »Das spielen wir immer mit unseren Schleichtieren.«

»Und dann gab es einen Sandhaufen«, fährt Oma fort, »den wir immer in vier Parzellen aufgeteilt haben.«

»Was sind Parzellen, Oma?«

Oma nimmt einen Schluck Apfelschorle. »Hm, schwer zu sagen. Sagen wir einfach, wir haben den Sandhaufen in vier Stücke aufgeteilt.«

»Warum aufgeteilt?« Jule stützt die Ellenbogen auf den Tisch und sieht Oma nachdenklich an.

»Wir waren drei Mädchen, Jule. Und unser bester Freund Siegfried aus der Nachbarschaft gehörte immer dazu. Jeder bekam ein rechteckiges Stück vom Sandhaufen, auf dem man dann ein Häuschen mit Garten baute.«

»Nur Häuschen? Habt ihr denn nichts anderes gebaut?«

Oma schüttelt den Kopf. »Eigentlich nicht – aber heute weiß ich auch weshalb. Da unsere Familien, Siegfrieds eingeschlossen, kein eigenes Haus besaßen – alles war nur gepachtet, das bedeutet gemietet – war die Sehnsucht nach einem eigenen Haus wohl sehr groß.«

Jule nickt verständnisvoll. »Wir bauen Burgen oder Höhlen mit Sandförmchen und Plastikschaufeln. Aber ihr konntet nur mit den Händen buddeln, oder wie?«

Oma steht auf und holt einen großen Löffel aus der Geschirrschublade. »Pass auf, Jule. Ein Hilfsmittel durften wir uns immer aus der Küche borgen.«

Verdutzt schaut Jule den Löffel an.»Du meinst, ihr habt mit einem Esslöffel im Sand gegraben?«

Oma nickt. »Genau. Aber wehe, wenn der abends noch im Sand lag, dann gab es Ärger. Ansonsten haben wir beim Häuschenbau alles verwendet, was wir draußen finden konnten: Kieselsteine, Stöckchen, Federn, Schneckenhäuser, Marienblümchen, Löwenzahn, aber auch Sachen, die weggeworfen wurden wie Glasscherben oder Bonbonpapier. Heute schmeißen die Leute ja noch ganz andere Sachen weg: Fernseher, Möbel, Fahrräder.«

Oma gibt Jule den Löffel. Jule betrachtet das Werkzeug skeptisch. »Und was habt ihr sonst noch gespielt?«, fragt sie schließlich.

»Einmal bekamen wir nach dem Krieg einen Ball geschenkt. Der blieb lange heil. Dann spielten wir mit den Nachbarmädchen Ballproben an der Wand: zehn Mal beten, neun Mal kneten, acht Mal boxen, sieben Mal Arm und so weiter …«

Jule springt auf. Neue Spiele kennenzulernen, ist für sie immer faszinierend. »Das musst du mir unbedingt mal zeigen, Oma!« Ihr Blick fällt auf den Kalender an der Wand. Es ist zwar Juli, aber das Kalenderblatt zeigt einen dichten Wald mit Tannen, was sie an Weihnachten erinnert. »Und im Winter?«, fragt sie Oma. »Konntet ihr da überhaupt nach draußen?«

»Im Winter konnten wir mit unseren Holzschuhen herrlich glitschen, überall dort, wo sich im Herbst Wasserstellen angesammelt hatten. Selbst bei der Weide nah der Schule durften wir üben. Statt Sport war eben Glitschen angesagt. Dabei bin ich einmal tüchtig auf den Hinterkopf geknallt und war bewusstlos. Ich hatte eine Gehirnerschütterung.« Oma verzieht das Gesicht. Der Gedanke an den Unfall scheint ihr immer noch gegenwärtig.

»Und dann wart ihr beim Arzt und du musstest eine Woche lang im Bett liegen?«

Oma schüttelt den Kopf. »I wo, ich habe zu Hause nichts gesagt, hatte aber lange noch Kopfschmerzen …«

Oma nimmt noch einen Schluck Apfelschorle und Jule schaut aus dem Fenster. Da steckt der Spaten in der Erde neben dem Rhabarber. Opa scheint vergessen zu haben, dass Jule ihn gerufen hat, denn er steht an der Mauer und schwatzt mit einem Nachbarn. Jule lässt den Blick schweifen. Am Himmel ziehen seltsame Wolken vorbei.

»Und was hast du am liebsten gespielt, Oma?«, fragt Jule geistesabwesend.

»Ein Spiel hieß Fangen: Jungen gegen Mädchen mit Erlösen.«

Jule zieht die Stirn kraus. »Das spielen wir auch manchmal auf dem Schulhof, Oma – aber die Jungen sind immer so brutal. Die halten die Mädchen mit Gewalt fest.«

Oma nickt. »Das war früher auch schon so, dann wusste man gleich, wer wen mochte.«

Jule dreht sich zu Oma um. »Ich finde alle Jungen aus unserer Klasse … na ja, die meisten, doof! Wenn ich ein Vampir wäre, würde ich allen das Blut aussaugen.«

Oma schmunzelt. »Also Jule, du hast wohl zu viel Fantasybücher gelesen. Das kann ich gar nicht glauben. Du spielst doch auch mit Clemens aus eurer Nachbarschaft.«

Jule schüttelt entschieden den Kopf. »Das ist ja wohl etwas ganz anderes. Außerdem bin nicht in Clemens verliebt!«

Oma nippt an ihrer Apfelschorle. »Na, in fünf Jahren spätestens sprechen wir uns wieder.«

Jule starrt wieder aus dem Fenster. Ein paar Wolken haben sich weiter vor die Sonne geschoben.

»… tanzende Hühner, beinloser Riese …«, murmelt sie.

Oma sieht auf und legt das Schälmesser beiseite. »Was murmelst du denn da, Jule?«, fragt sie.

Jule zeigt auf die Wolken. »Siehst du das denn nicht, Oma?« Sie deutet in den Himmel und grinst. »Da ist doch ein Löwe auf einem Skateboard.«